„Müssen in einer verrückten Liga mit klarem Verstand unsere Arbeit erledigen“

Sportdirektor Angelo Vier fühlt sich wohl auf der Schanz (Foto: Bösl / KBUMM).

„Müssen in einer verrückten Liga mit klarem Verstand unsere Arbeit erledigen“

18. April, 2018 12.00 Uhr

DDR-Nationalteam, Auslandseinsätze in Frankreich und zweifacher Torschützenkönig der 2. Bundesliga: FCI-Sportdirektor Angelo Vier blickt auf eine spannende Karriere zurück, die ihn am Ende auf die Schanz geführt hat. Im „Blick hinter die Schanz“ durchleuchten wir den Mann, der seit Sommer die sportlichen Geschicke unseres Vereins leitet. Wir haben mit Sportdirektor Angelo Vier über seine bewegte Vergangenheit, Ostfußball, das Profibusiness und natürlich seine Aufgaben beim FC Ingolstadt 04 gesprochen.

fci.de: Jedem, der in den 2000er Jahren 2. Bundesliga geschaut hat, bist du ein Begriff – mit 59 erzielten Toren warst du auch Torschützenkönig. Was bleibt für dich von dieser Zeit?

Angelo Vier: Ich bin sehr dankbar für 15 Jahre Profifußball, das war eine wirklich schöne Zeit. Im Alter von sechs Jahren habe ich angefangen, Fußball zu spielen und bin mit 17 Profi geworden. Wer heute sagen kann, dass er so lange Profifußball spielen konnte, darf sich wirklich glücklich schätzen, das ist nicht selbstverständlich.

fci.de: Deine ersten Schritte im Fußball hast du noch in DDR-Zeiten gemacht. Wie sah die Jugendarbeit aus und kann man das noch mit heute vergleichen?

Vier: Ich war auf der Sportschule des BFC Dynamo, in der damaligen Zeit der erfolgreichste Verein im Osten. Wenn man sich die heutige Struktur der Nachwuchsleistungszentren anschaut, dann hat sich das System nicht viel verändert. Man hat sehr früh in allen Sportarten Talente rekrutiert und ihnen ermöglicht, ihrer Passion nachzugehen, auch in Verbindung mit Schule und Ausbildung. Es gab reine Sportklassen, in denen das Training sinnvoll mit dem Lehrstoff kombiniert wurde. Für mich war es eine tolle Zeit, die mich auch charakterlich geprägt hat. Diese Ausbildung war der Grundstein meiner Karriere.


Angelo Vier blickt auf eine bewegte Spielerkarriere zurück (Foto: Bösl / KBUMM).

fci.de: Fast direkt nach der Wende hat es dich nach Frankreich gezogen. Wie kam es dazu?

Vier: Die Mauer fiel und es prasselte auf einmal sehr viel auf uns ein. Ich war 18 und Nationalspieler, weshalb ich das absolute Privileg hatte, Länderspiele im Ausland zu bestreiten. Mit der U 16 sind wir sogar EM-Dritter geworden – und mit der Wende standen viele Tore offen. Auf einmal kamen viele Berater mit Angeboten aus dem Ausland auf einen zu. Mich hat es eben nach Frankreich verschlagen – ich bin hingefahren, habe den Trainer und die Leute kennen gelernt und es hat mir alles gut gefallen. Die Saison in Frankreich hatte schon begonnen, aber es gab eine Art „Joker“, welchen die Vereine ziehen konnten, um noch jemanden nachzuverpflichten. In diesem Alter in „den Westen“ zu gehen, war ein nächster Schritt.

fci.de: Das war sicher eine große Herausforderung nach der relativ behüteten Welt der DDR-Sportschule…

Vier: Absolut. Das ist sicher nicht mehr mit heute zu vergleichen. Da gab es kein Deutsches Fernsehen oder einen Sprachlehrer an die Hand. Ich konnte kein Französisch und musste mich einfach durchbeißen, alles selbst lernen und mich auf Land und Kultur einstellen. Der Verein hat sich um eine Wohnung und die Mobilität gekümmert, für den Rest musste ich selbst sorgen. Aber es waren gute Spieler und Jungs, die mir geholfen haben. Zudem hatte ich mit FC Metz-Ikone Marcel Husson einen Trainer, der perfekt Deutsch konnte. Bei ihm habe ich sogar gewohnt, bevor ich eine eigene Wohnung hatte. Auch der spätere Tunesische Nationaltorhüter Ali Boumnijel konnte Deutsch,  so hat er mir mit meinem Französisch geholfen. Den Rest habe ich durch das Fernsehen und das alltägliche Leben gelernt. Die Franzosen sind sehr stolz, was ihre Sprache anbelangt, also wurde das auch erwartet, unabhängig davon, ob sie mich auch so verstanden hätten. Insgesamt war es eine große Herausforderung, angefangen von der Autoversicherung bis zur Steuererklärung, für die man auf einmal selbst verantwortlich war. Aber ich glaube, dass das für meinen weiteren Weg sehr wichtig war.

fci.de: Wenn du deine damalige Profizeit mit dem heutigen Geschäft vergleichst – was sind die gravierendsten Unterschiede?

Vier: Es hat sich sehr viel geändert. Vereinswechsel im Stile von heute gab es eigentlich nicht. Es gab das 1995 das sogenannte Bosman-Urteil, das besagte, dass Profis in der EU nach Ende des Vertrages ablösefrei zu einem anderen Verein wechseln dürfen und bestehende Restriktionen für Ausländer zu Fall brachte. Das hat den Fußball unwahrscheinlich verändert, genauso wie den Stellen- und Marktwert von jungen Spielern.

fci.de: Die höchste Ablöse für dich betrug 1,5 Millionen Mark – wohlgemerkt als Torschützenkönig. Ein Preis, für den man dich equivalent heute sicher nicht mehr bekommen würde…

Vier: Genau das meine ich. Mit heute ist es nicht mehr vergleichbar, da werden ganz andere Summen bezahlt und das in Euro. Auch die Strukturen haben sich verändert, denn damals musstest du dich als junger Spieler von 17-18 Jahren durchbeißen und behaupten. Du kamst in eine Mannschaft mit alteingesessenen Spielern und hast länger gebraucht, dir einen Stellenwert zu erarbeiten. Das war auch nicht anders, als ich mit 21 in die Bundesliga zu Werder Bremen gewechselt bin. Es war auch eine Zeit, in der du erstmal 100 Bundesligapartien absolvieren musstest, um für das Nationalteam in Frage zu kommen. Aber jede Zeit hat seine eigenen Anforderungen und Schwierigkeiten.

fci.de: Auch medial stehen junge Talente mittlerweile immer stärker im Fokus. Wie stehst du dazu?

Vier: Ich bin nicht unglücklich darüber, dass damals nicht immer jeder ein Smartphone mit sich rumgetragen hat und jeden Schritt dokumentiert hat. Gegen Ende meiner Karriere hat sich das auch verändert, aber man konnte sich insgesamt auch im privaten Umfeld noch etwas diskreter und freier bewegen. Ich denke, dass junge Spieler da ihren eigenen Weg finden müssen. Das wichtigste ist, du selbst zu bleiben und deinen eigenen Weg in dieser durchmedialisierten Welt zu finden. Du musst Werte im Umgang mit deinen Mitmenschen, deiner Familie und den Medien finden und dich daran halten. Der Druck auf die Spieler, den es genau genommen ja schon immer gab, wird heute viel thematisiert. Druck gehört überall dazu, in jedem Beruf, aber es ist schnelllebiger geworden. Heute ist noch alles toll, morgen ist alles schlecht und anders herum, will man manchmal meinen. Aber das liegt in der Natur der Sache, wenn Informationen über Social Media und andere Kanäle schnell und immer abrufbar sind. Damit muss man als Profi lernen umzugehen, was durch ein positives und professionelles Umfeld heutzutage absolut machbar ist. Entscheidend bleibt, dass trotz alledem der Spaß am Fußball nicht verloren geht.

fci.de: War es für dich nach dem Ende deiner Karriere sofort klar, dass du weiter im Fußball arbeiten wirst?

Vier: Eigentlich schon. Ich wurde am Knie und der Schulter operiert und musste dann aufhören. Im Zuge der Umschulung habe ich dann meine Trainerlizenzen bis zur „A“ gemacht. 2004 habe ich mit Partnern eine Sportberatungsfirma für Spieler und Vereine gegründet, ehe es 2009 nach Los Angeles ging, wo ein Verein und eine Sportschule dazukamen. Danach begann ich mit der Tätigkeit als Sportdirektor beim BFC.

Ständig im Austausch: Geschäftsführer Sport und Kommunikation Harald Gärtner mit Sportdirektor Angelo Vier (Foto: Bösl / KBUMM).

fci.de: In den USA ist Fußball nicht die populärste Sportart. Siehst du Potential für den „US-Soccer“?

Vier: Absolut! Sport hat dort insgesamt einen hohen Stellenwert und mein Engagement war eine top Erfahrung. Für mich ist das aktuell einer der spannendsten Märkte in der Zukunft des Fußballs, der noch nicht zu 100% erschlossen ist. Da steckt sehr viel Potential drin und ich bin mir sicher, dass sowohl die Qualität als auch der Stellenwert steigen werden. Die USA werden, was Talente anbelangt, in der Zukunft eine große Rolle spielen.

fci.de: Worauf achtet der Sportdirektor Angelo Vier, wenn er einen neuen Spieler verpflichtet, abgesehen von der sportlichen Perspektive?

Vier: Das du Charakter hast und die Mentalität stimmt. Diese zwei Faktoren schlagen meiner Meinung nach am Ende sogar die reine Qualität als Spieler. Diejenigen, die eine gesunde Einstellung zu ihrem Handwerk und einen guten Willen haben, setzen sich durch. Dafür ist es wichtig, sich mit Mentalität gegen Widerstände zu stemmen und den eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen. Das sieht man an Superstars, hinter deren Leistung nicht nur Talent, sondern jeden Tag akribische und harte Arbeit steckt. Und wir sprechen hier nicht nur über einen Zeitraum von zwei oder drei Monaten, sondern von Jahrzehnten. Die Karriere eines Christiano Ronaldos ist ein Lebenswerk.

fci.de: Zuletzt warst du Sportdirektor beim BFC Dynamo. Im Westen hat man nicht wirklich das Gefühl für den Stellenwert dieses Clubs, der in der DDR goldene Zeiten erlebt hat. Wie würdest du die Rolle des Vereins heute im Vergleich zu damals sehen?

Vier: Der BFC Dynamo ist ein absoluter Traditionsverein, der nach der Wende unwahrscheinlich an Image und Darstellung verloren hat. Wenn man sich anschaut, welche Arbeit geleistet wurde und welche Spieler dieser Verein herausgebracht hat, dann ist das schon beeindruckend. Viele Profis wurden verkauft und Geld damit generiert, die einen Weg wie den von Hansa Rostock oder Dynamo Dresden ermöglicht hätten. Leider weiß man bis heute nicht, was mit diesem Geld passiert ist. Dann gab es Namensänderungen, sicherlich auch Übernahmen von Verantwortlichen, wo es einfach nicht gepasst hat und Imageprobleme. Seit Peter Meyer Wirtschaftsrat beim BFC ist, ging es wieder Bergauf. Er kam aus der Fangemeinde, war in der freien Wirtschaft erfolgreich und hat den Verein quasi von ganz unten wieder in die Regionalliga gebracht. Diese Kombination birgt auf jeden Fall Potenzial, alleine wenn man bedenkt, dass es dort wieder über 35 Jugendmannschaften gibt. Auch das Stadion in der Stadt wird umgebaut und Plätze, auch wenn sie teilweise älter sind, sind genügend vorhanden um eine professionelle Arbeit zu ermöglichen. Es ist jetzt ein harter Weg, aber es ist nun mal so: Von Tradition alleine kann man nicht leben. Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass sie ihn weitergehen, denn es ist der richtige.

fci.de: Nun werden wir ketzerisch: Der FCI und Oberbayern sind ein ganz anderes Blatt, fast schon das Kontrastprogramm…

Vier: Das stimmt schon, der FCI für sich ist „erst“ 2004 gegründet worden. Aber das ist nun 14 Jahre her und in dieser Zeit hat man gesehen was passiert, wenn ein Verein kontinuierlich gut und professionell arbeitet. An den Schanzern sieht man, was möglich ist, wenn man diesen Weg geht. Wir haben uns in den letzten Jahren überall Respekt erarbeitet und das ist absolut kein Zufall. Dahinter steckt harte Arbeit. Ich habe eine Philosophie, wie ich als Sportdirektor des FC Ingolstadt 04 arbeiten möchte und diese passt zu Verein und insbesondere auch zum Trainerteam, mit dem wir immer im engen Austausch stehen. So verschieden ist es also gar nicht. Wir haben in dieser schweren Saison einen guten Kader und werden versuchen, das Beste herauszuholen. Nach einer schlechten Phase liefen die letzten vier Wochen sehr gut für uns, das wollen wir bestätigen und Spiel für Spiel unsere Leistung bringen.


Den richtigen Kurs eingeschlagen: Seit Sportdirektor Angelo Vier mit Trainer Stefan Leitl (Mitte) und Assistenz-Coach André Mijatovic im August die Arbeit aufgenommen haben, hat sich der FCI in die oberen Tabellengefilde der 2. Bundesliga gearbeitet (Foto: Bösl / KBUMM).

fci.de: Als absoluter Kenner und Experte: Wie siehst du insgesamt die Entwicklung der Ostvereine nach der Wende?

Vier: Im Osten war und ist Fußball eine Macht. Am Wochenende gibt es nichts anderes und die Identifikation ist unheimlich stark. Die Menschen leben dort mit ihren Vereinen vergleichbar wie im Ruhrpott. Allerdings hat man im Wettbewerb jahrelang hinterhergehinkt, was an den Infrastrukturen und der Vermarktung lag – es war einfach kein Geld da. Das wurde teilweise schon aufgeholt und man sieht an vielen Beispielen der zweiten und dritten Liga, dass mit professioneller Struktur und Management einiges drin ist. Es ist nicht einfach, Ruhe und Kontinuität in einen Verein zu bringen, aber mittlerweile sind dort Leute am Werk, die die nötige Qualität und Leidenschaft mitbringen. Ich würde mir wünschen, dass der Trend weiter positiv bleibt, denn der Fußball ist sicher auch im Bereich Identitätsstiftung sehr wichtig.

fci.de: Du hast die verrückte Saison angesprochen in der es vom Vierten bis zur Abstiegsrelegation und anders herum nur zwei oder drei Spieltage sein können – wie ist es für dich als Sportdirektor, ganz nüchtern betrachtet drei Liga-Szenarien zu berücksichtigen?

Vier: Ich denke, dass wir mit unserer Vereinsphilosophie für alle Szenarien gerüstet sind. Unser Ziel war und ist es, nach dem Bundesligaabstieg eine Mannschaft aufzubauen, die konkurrenzfähig ist. Beim FCI wird solide und längerfristig geplant, deshalb suchen und verpflichten wir immer wieder junge, talentierte Spieler, die wir aufbauen wollen. Bereits während der Saison analysieren wir, wo wir uns verbessern müssen und können. Dort werden wir ansetzen und da ist Panik oder blinde Euphorie fehl am Platz. Wir müssen mit klarem Verstand unsere Arbeit erledigen und das tun wir mit Stefan Leitl. Der verrückte Verlauf macht das Planen sicher nicht einfach. Aber aktuell geht das einem Großteil in der Liga so und wir als Schanzer haben den Vorteil, dass wir uns eine Infrastruktur geschaffen haben, die ein Fundament für alle Szenarien bildet.

fci.de: Hätte der Sportdirektor den damaligen Stürmer Angelo Vier im Winter für den FCI verpflichtet?

Vier: Das weiß ich nicht (lacht). Wenn wir die Statistiken anschauen, dann hatten wir sehr viele Torchancen, mit der Verarbeitung hat es etwas gehapert. Als Strafraumstürmer wäre mir das sicher zu Gute gekommen und hätte mir gefallen. Aber wir haben das richtige Personal, also bin ich froh, dass ich diese Entscheidung nicht treffen musste.